Wir haben einen Mangel an Mangel

Dies ist ein Auszug aus meinem Buch “Vom erfüllenden Mangel”

«Wir haben einen Mangel an Mangel und sind damit total überfordert.»

Kein Satz, kein Zitat, kein Gedankenzug beschreibt für mich die Herausforderungen von uns Menschen in der heutigen Zeit besser als die Worte von Rem Koolhaas, einem der anerkanntesten zeitgenössischen Architekten.  Das Zitat löste in mir umgehend wie ein Stromstoss einen starken Fluss an Gedanken aus. Eine dieser seltenen, bleibende Spuren, eine Energie, die nicht anders kann als weitere Gedanken und Emotionen folgen zu lassen. Ein Gefühl von «Das ist es! Auf den Punkt! Warum bin ich bloss nicht selber darauf gekommen».

Wie oft fühlen wir uns unzufrieden, unruhig, eigentlich voll - und eben doch nicht ausgefüllt. Wie oft wollen wir etwas daran verändern, beginnen motiviert mit etwas Neuem. Und hören meist früher als später ermüdet, lustlos und frustriert wieder auf. Wir spüren zwar, dass es uns an etwas mangelt, sind gewillt diesen Mangel auszufüllen, um uns am Ende doch wieder lieber der bequemen Fülle zuzuwenden, die uns in verschiedensten Varianten in unserem täglichen Leben stets bereit zur Verfügung steht. «Warum sich eigentlich verändern» sagen wir, und beschwichtigen uns dabei mit «schliesslich haben wir ja lange dafür gearbeitet, für all das, was wir jetzt besitzen». Und was uns besitzt. Aber diesen zweiten Teil, diese Konsequenz des Besitzes realisieren wir nicht. Weil wir nicht so zu denken gelernt haben. Weil wir die Perspektive gerne so behalten, wie wir sie kennen. Bekannte Muster geben uns ein Gefühl von zu Hause, von Vertrautem, egal ob sie uns guttun oder nicht.

Wir begeben uns zwar immer wieder daran, dass Hindernis des inneren Mangels, den wir irgendwie latent spüren, zu erklimmen.  Wir versuchen auf die andere Seite zu gelangen, sehen nach einer Weile aber doch ermüdet wieder davon ab. Wir klettern vom Hindernis runter und biegen in die schöne und bekannte Allee der Fülle ein, um es uns dort in deren Weite gut und «frei» gehen zu lassen. Auch wenn diese Allee an ihrem Ende nichts anderen als eine Sackgasse der inneren Leere ist.

So füllen wir unsere innere Leere weiter stetig mit Abhängigkeiten zum Aussen auf, bis wir unsere Identität komplett zugedrückt haben mit Füllmaterial aus dem äusseren Lebens. Und ersticken dabei den Dialog zu unserem Inneren. Weil wir dann nicht mehr genau spüren, was unsere Bedürfnisse und Werte wirklich sind, wer wir im Endeffekt wirklich sind, richten wir uns, je «aufgefüllter» wir sind immer stärker nach den Spielregeln im Aussen. Und wir beginnen mit dem, was man «kompensieren» nennt: Mit Abhängigkeiten in unserer Partnerschaft, bei der Arbeit, zu materiellen Dingen und der wenigen freien Zeit, welche wir dann «Ferien» nennen und an welche wir dann enorme, aufgestaute Erwartungen haben. Diese kurze Zeit hat dann die grosse Aufgabe uns alles wiederzugeben, was wir im Alltag mit unserem Trott (und unserem Besitz, der uns besitzt!)  zugemüllt haben:

Liebe, Energie, Zeit und Freiheit.

Und wenn es nicht einmal mehr dort klappt und das kurze Zeitfenster, in dem wir unsere Träume der Vergangenheit wieder zu uns lassen wollen, sich unerfüllt schliesst, fallen wir noch tiefer in die Hoffnungslosigkeit und Resignation: «So ist das Leben nun mal. Aber es muss wohl so sein. Irgendwie geht es schon weiter. Es muss».

Unser Klang wird zum Hintergrundrauschen.

Als Kinder hatten wir Träume und Wünsche. Waren voller Hoffnung und Tatendrang. Und spürten ein klares Signal der Zukunft: wer wir sind und wer wir sein wollten. Wir waren wir ein grosses Mischpult mit vielen Reglern, die alle perfekt eingestellt waren und unseren vollen Klang als Mensch und Identität wiedergaben. Einzigartig und rein. Und dann betraten wir das Leben, und wir und die anderen um uns herum begannen alle an den Reglern zu schrauben. Immer ganz wenig und ganz unmerklich, meist ganz unbewusst. Und das klare Signal unserer Identität und Vision begann langsam und stetig mehr zu rauschen. Aber weil dies eben sehr unmerklich geschah, fiel es uns nicht auf. Und wir gewöhnten uns an dieses Rauschen, welches immer stärker wurde. Es fiel uns gar nicht auf. Bis vom Klang nichts mehr übrig war und es nur noch rauschte. Und wir es dann einfach als Hintergrundrauschen abtaten. Ein Rauschen, dass einfach dazugehört. Ein Rauschen, das zwar nicht angenehm ist, aber ein Teil von uns. Wir lernten es akzeptieren und damit umgehen. Nur manchmal, da horchen wir hin und fragen uns: «Muss dieses Rauschen denn wirklich sein? Kann ich mein Mischpult nicht wieder so einstellen, kann ich nicht versuchen an den Reglern zu drehen, so dass ich wieder mein klares Signal von früher spüre? So, dass ich einfach mal wieder merke, wie wunderbar das klingt. Und wie das Signal überhaupt auf mich wirkt». Und dann beginnen wir an einem der vielen Regler zu drehen, beginnen etwas in unserem Leben zu verändern. Vielleicht wird das Signal auch etwas besser. Aber wir verlieren bald die Geduld. Denn unsere Erwartung ist: Schnell einen Knopf drücken, eine Tablette schlucken, kurz sich reinknien, und schon ist die Welt wieder in Ordnung. Aber in diesem Fall ist es nicht nur ein Knopf. Es sind ganz viele. Und weil es soviele Knöpfe und Regler sind, überkommt uns rasch das Gefühl «Ach, das wird eh nichts. Und warum auch, es geht auch so». Und so bleibt das Rauschen. Es bleibt solange, bis es sich plötzlich, überraschend und sehr unangenhm zu einem unerträglichen Lärm entwickelt. Oder einfach knallt. Und bleibt. Und uns vereinnahmt. Meistens dann, wenn wir eine grosse Krise, einen grossen Verlust, eine innere Leere und damit einen Mangel erfahren. Dann haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder wir beginnen nun mit Geduld an den Reglern unseres Lebensmischpultes zu drehen, so lange, bis das Signal klarer wird. Oder wir ergeben uns dem Lärm, der uns immer wie mehr erdrückt und am Ende wegbläst.

Versuchen Sie sich einmal folgende Frage als ein kleines Gedankenexperiment zu beantworten: Eines Tages werden Sie entführt und gefangen genommen. Sie werden an einen Ihnen fremden Ort gebracht und können dort nicht weg. Sie geraten in Gefangenschaft. Sie spüren aber zu Ihrem Erstaunen, dass Sie trotz dieser Gefangenschaft in Ihrem Innern eine Ruhe, Zufriedenheit, Dankbarkeit und ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit spüren wie noch nie zuvor. Sie spüren genau das, nach was Sie eigentlich schon immer gesucht haben. Und nun stehen Sie vor zwei Möglichkeiten: Sie können zurück in die Freiheit. Oder in dieser Gefangenschaft bleiben. Wie entscheiden Sie sich?

Diese Frage zu beantworten ist nicht einfach. Sollten Sie einer der Menschen sein, der umgehend sagt «ich wähle die Freiheit, aber ganz sicher!», dann lassen Sie die Frage und den Sinn der Frage noch einmal genau auf Sich wirken. Denn: Was bedeutet «Freiheit» genau? Wann sind wir frei? Wenn wir es vordergründig im Aussen sind, oder wenn wir es im Innern spüren? Wir können noch so viel besitzen, noch so unabhängig sein, wenn wir es im Innern nicht sind, werden wir stets in einer Spannung leben. Diese Frage gibt Ihnen die Möglichkeit in sich zu gehen und den Dialog mit sich selber suchen. Und so am Weg in die Freiheit zu arbeiten, Schritt für Schritt.

Uns mangelt es an Mangel. Und das überfordert uns. Aber eigentlich muss das gar nicht sein. Weil wir als Menschen in unserem Urprogramm gerade eben für Mangel und den Umgang mit Mangel «gebaut» sind. Unsere Urahnen in der Steppe kannten nichts anderes als Mangel. Und dies laufend. Mangel war der Antrieb zum Überleben. Mangel war der Antrieb für Achtsamkeit, Kreativität, Neugier, Zufriedenheit, Beweglichkeit, Gesundheit und Dankbarkeit. Alles Gefühle und Seinszustände, von denen wir uns heute mehr wünschen. An denen es uns also mangelt. Und genau dieses umbewusste Dilemma überfordert uns. Weil wir uns eigentlich nichts mehr wünschen, als diese Gefühle und Seinszustände wieder mehr zu erleben.

Wie das gelingen kann, darüber handelt dieses Buch.


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