Kolossale Punktlandung dank perfekt orchestrierten Ballerinasprüngen

Grosse, exakte Prognosen – Pseudowissenschaft wider die Vernunft

Stellen Sie sich vor: Sie sind 200 Kilo schwer und Profisportler. Der Sport respektive das Spiel nennt sich: Punktlandung. Sie stehen auf einen Punkt und nennen eine Weite, die Sie springen werden. Und dann versuchen Sie genau diese Weite zu springen. Und siehe da, Sie sind ja ein Profi in dieser Disziplin, Sie treffen die angesagte Weite fast immer auf den Millimeter genau. Notabene mit der Spitze Ihres Turn- oder noch besser Ballerina-Schuhs balancieren Sie auf dem roten angesagten Punkt. Mal für Mal punktgenau. Oder eben nur Millimeter daneben. Die Zuschauer sind zufrieden. Und Sie auch. Doch Obacht: 100 andere Mitbewerber tun dasselbe. Und in ebenfalls höchster Landeperfektion. Wenn sie weiter springen, gibt es ein Staunen und Jubeln. Wenn sie jedoch zu kurz springen – eine grosse Enttäuschung. Doch meistens sind sie punktgenau. Und das Publikum macht es sich zur Aufgabe, ihre Weite ebenfalls zu schätzen – und darauf zu wetten. 

Komisches Spiel? Die Finanzwelt spielt es alle drei Monate oder anders gesagt, quartalsweise aufs Neue. Und bewegt dabei mit einer Genauigkeit von zwei Stellen nach dem Komma den Gewinn pro Aktie meistens punktgenau den eigenen Prognosen entsprechend. Nehmen wir das Schweizer Paradeunternehmen schlechthin, Nestlé: Ein Unternehmen, in welchem 281 000 Mitarbeiter zu einem Jahresumsatz von knapp CHF 105 Milliarden und einem Bruttogewinn von CHF 12.3 Milliarden beitragen. Und diese Mitarbeiter werden so «orchestriert», dass Nestlé schon Wochen zum Voraus den Gewinn pro Aktie auf zwei Kommastellen genau angeben – und dann auch noch einhalten kann! Quartal für Quartal. Und am besten immer etwas mehr als im Vergleichsquartal vom Vorjahr. Eindrücklich! Natürlich! 

Eindrücklich? Natürlich? Linearität, also die angenehm stetige Entwicklung ohne grosse Schwankungen ist kein Merkmal natürlicher Evolution sondern menschlicher Vorliebe für Muster und Stabilität. Natürlich ist vielmehr die Reaktion auf einen unerwarteten Bruch mit dieser Wachstumsstabilität: Verfehlt ein Unternehmen seine Punktlandung und landet davor, folgt die Quittung umgehend: Kurseinbruch. Und «Vertrauensverlust», wie es im Fachjargon heisst. Wie konnten wir diesen Zahlen nur trauen? Es war ja offensichtlich! Verlieren Sie das Vertrauen in exakte Quartalspunktlandungen lieber vorher. Dann können Sie die überschüssige Energie für die langfristige Analyse des Unternehmens verwenden. Und sind erst noch weniger enttäuscht.

Siebenundzwanzigster Januar Zweitausendzwölf

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